Vom täglichen Stigma der Armut

Bewertung: 4/4 Sterne

Wer wissen will, wie viele kluge Gedanken und Recherchearbeit hinter dem Abend All about Nothing der Bonner Theatergruppe pulk fiktion steckt, dem sei ein Blick in die begleitende Dokumentation der Dramaturgin Carina Eberle empfohlen, die sich auf der Homepage der Gruppe [s.u.] findet. Auf der Bühne im Freien Werkstatt Theater Köln ist davon einiges, aber erfreulicherweise nicht alles zu sehen. Statt ihre Zuschauer mit Fakten zuzuschütten, entwickelt pulk fiktion eine Aufführung, die ihren Charme und ihre Eindringlichkeit zwischen kleinen Spielszenen, Projektionen, Zeichnungen und bei Musik entfaltet.

Kinderarmut ist ein Thema, das erst kürzlich wieder durch eine aktuelle Studie in den Fokus gerückt wurde. Laut dieser Studie der Bertelsmann-Stiftung sind in Deutschland über zwei Millionen Kinder und Jugendliche von Kinderarmut betroffen und damit in ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt. Ein hochaktuelles Problem also, dessen sich die mit dem diesjährigen George-Tabori-Förderpreis ausgezeichnete Theatergruppe annimmt. Der lose Rahmen von All about Nothing ist ein Kind, dem immer wieder ein Luftballon zum Geburtstag überreicht wird. Nur beginnt dieses Spiel mit dem 21. Geburtstag und endet am Anfang des Lebens. Allerdings wird im Verlauf der knapp 60 Minuten Spieldauer keine stringente Geschichte erzählt, vielmehr gibt es einzelne kleine Szenen, mal ein Lied darüber, wie es ist, am Abgrund zu stehen, eine Sequenz dazu, dass viele Kinder arbeiten (etwas Zeitung austragen), um Geld zu verdienen, oder eine Anleitung einer fiktiven Bloggerin, wie man das klauen kann, was man gerne haben möchte und dabei zugleich einer Strafe entgeht.

In einer performativen Collage entsteht so eine fiktive Armutsbiografie. Die vier Darsteller (unter ihnen auch ein Musiker und eine Tänzerin) stellen sich dabei zu Beginn dem Publikum vor und treten auch regelmäßig mit diesem in Kontakt. Die Bühne ist schlicht gehalten: ein heller Raum, nach hinten begrenzt durch eine Art Streifenvorhang, durch den die Auftritte erfolgen. Links steht ein Mikrofon, rechts ein (Technik-)Pult mit der Möglichkeit, Zeichnung auf den Vorhang zu werfen, die größtenteils live entstehen. Immer wieder werden, über Kontakte im Boden, O-Töne von Kindern eingespielt. In denen geht es u.a. darum, was die Kinder werden wollen, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen. Von einer heilen Familie ist dort oft die Rede und von einem Beruf, mit dem man Geld verdienen kann. Aber auch Begehrlichkeiten sind Thema bzw. Ausreden, wenn man bei Aktivitäten nicht mitmachen kann.

Die Macher hinter pulk fiktion richten ihr Stück an Zuschauer ab 12 Jahren. Und so wird der eine oder andere Jugendliche vielleicht eine Situation wiederkennen, in der er sich selbst befunden hat oder die ihn oder sie an das Verhalten eines Mitschülers erinnert. Sensibilisierung ist das Stichwort der Gruppe zu diesem Thema. Aber auch für Erwachsene bietet All about Nothing genügend Material zum Nachdenken darüber, dass manche Kinder von Anfang an keine Chance haben, einem Teufelskreis aus Armut und sozialem Elend zu entgehen. Ein Aspekt, der dabei vielleicht etwas kurz kommt: Es sind nicht nur die Elends- und Hartz-IV-Biografien ganzer Familien, die bei Kinderarmut eine Rolle spielen. Vielmehr trifft Armut auch oftmals Kinder von Alleinerziehenden. Und das ist für ein reiches Land wie Deutschland wahrlich kein Ruhmesblatt. pulk fiktion kommt das Verdienst zu, dieses Thema spielerisch anzupacken, ohne einen moralischen Zeigefinger zu erheben.

Kultur-Extra, Karoline Bendig, 09.10.2016