Nehmt’s den Reichen, gebt’s den Arme

von Dietmar Zimmermann

Es weihnachtet – Zeit für die Familienstücke. Und siehe da: Zwei völlig unterschiedliche Kompanien feiern in Düsseldorf an zwei aufeinanderfolgenden Tagen mit Familienstücken Premiere und haben jeweils das gleiche Ziel: die Kinder dafür zu sensibilisieren, dass man eventuellen Reichtum mit den Bedürftigen teilen muss. Umverteilung also. Bloß: Wie geht man das an? Und wie bringt man das vordergründig so einfache, de facto aber so komplexe Thema der Zielgruppe ab 6 respektive ab 8 Jahren adäquat näher? Nun, pulk fiktion und das Junge Schauspiel Düsseldorf schauen jeweils ins Mutterland von Adam Smith und John Maynard Keynes und finden ihre Stoffe in der dortigen Literatur. Robin Hood raubte in Nottingham die Reichen und die kirchlichen Würdenträger aus und wandelte sich im Laufe der Jahrhunderte in der literarischen und sozialpolitischen Rezeption vom Räuber zum Sozialrevolutionär; der raffgierige Kleinunternehmer Ebenezer Scrooge aus London wird bei Charles Dickens mit Hilfe von Nächstenliebe und Weihnachtsgeistern in einen freigiebigen Philanthropen verwandelt. Dickens erzählt ein liebenswertes, moralisches Märchen. Die Sage von Robin Hood hat da mehr revolutionäres Potential.

Verordnete Umverteilung: Ruft pulk fiktion Kinder zur Revolution auf?

Pulk fiktion aus Köln glaubt nicht so recht an Märchen à la Dickens, dafür umso mehr an die Revolution. Vor allem aber wird die Gruppe geschätzt für ihre entspannte und durchaus basisdemokratische Art, merkwürdige Wahrheiten aus althergebrachten und möglicherweise politisch gar nicht mehr korrekten Stoffen zu hinterfragen: Max und Moritz war dafür vor drei Jahren ein besonders brillantes Beispiel, das die Zielgruppe der Kinder ganz ohne erhobenen Zeigefinger mit dem Thema Schadenfreude konfrontierte. Schadenfreude als eine zwar menschliche (insbesondere auch kindgerechte), moralisch aber eher abzulehnende Regung zu betrachten, dürfte allerdings auch allgemeiner Konsens sein. Da ist die Mär vom Räuber und Sozialrevolutionär schon ambivalenter, vor allem wenn man sie aus der autokratischen höfischen Klassengesellschaft des 13. – 18. Jahrhunderts (so lange wurde die Geschichte immer weiterentwickelt!) auf die demokratisch legitimierte soziale Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts übertragen will.

Im KAP1, der nigelnagelneuen Spielstätte des Forums Freies Theater in Düsseldorf, ist der Stil von pulk fiktion sogleich wiederzuerkennen. „Niemand setzt sich hier zur Wehr / deshalb muss ein Hero her / nimmt’s den Reichen, gibt’s den Armen / Robin Hood heißt er mit Namen“, knitteln „Robin und die Hoods“ und rauben einen Schatz. Sogleich beginnt die Hinterfragung: „Rauben? Ist das ein böses Wort? Sind wir Räuber?“ Oder stimmt es, dass die Bande nur borgt „von solchen Leuten, die zu viel verdienen“? Kinder und Erwachsene rätseln: Ist „borgen“ ein adäquates Wort, wenn man gar nicht beabsichtigt, das geborgte Gut zurückzugeben? „Zu viel verdienen“ – sind wir da nicht schon bei der unsäglichen Neid-Debatte? – Die Performer lassen keine Zweifel an ihrer Auffassung, dass Umverteilung das Gebot der Stunde ist. Aber was ist fair, was ist gerecht? Ab wann ist Umverteilung Diebstahl? Welche Mittel sind erlaubt, um Umverteilung herbeizuführen? Raub? Mord gar?

Pulk fiktion stellt diese Fragen im bewährten gelassenen Stil der Gruppe. „Robin und die Hoods“ sind eine Band, die zunächst im Zeitraffer einige Motive aus der englischen Sage vorstellt. Sie ironisieren das Pathos der Geschichte mit witzigen Gags und skurrilen pantomimischen Einlagen, mal mehr, mal weniger gelungenen kleinen Choreographien (vor allem die absurde Show, mit der sie sich am Ende den ihnen wieder entwendeten Schatz zurückklauen, ist höchst witzig!) sowie mit bewusst laienhaftem Playback zu vom Band eingespielten akustischen Filmdokumenten. Immer wieder reißen sie die 4. Wand ein, indem sie auf eine unaufdringliche Weise mit den Zuschauern kommunizieren: Wer würde einem Bettler etwas spenden? Und zwei Bettlern? Kann man allen Bettlern was geben? Unlösbare Konflikte tun sich auf, werden aber auf pulk-fiktion-Art nicht per moralischem Zeigefinger aufgelöst, sondern dem Publikum zum Nacharbeiten hinterlassen.

Vor allem aber ist es „Technik-Peter“, der die 4. Wand durchbricht. Denn der will auch mitreden bei der Verteilung des Schatzes, obwohl der arme Peter von den Performerinnen und Performern kurzerhand zum Besitzenden erklärt wird. Kaum jedenfalls ist der Schatz geklaut, geht die Diskussion um dessen gerechte Verteilung los: Ist Gleichverteilung die gerechte Lösung? Kriegt das Publikum auch was mit, obwohl es doch gar nichts geleistet hat? Marouf Alhassan, der Versöhnlichste unter den Performern, der sich immer wieder versichern möchte, dass er auch zu den „Guten“ gehört, glaubt: „Man hat doch nicht nur Recht auf Wohlstand, wenn man etwas geleistet hat:“ Anderer Ansatz: Bekommt mehr, wer im Sherwood Forest mehr gekämpft hat? Oder wer die Idee zur Performance hatte? Intuitiv werden viele der Kinder verstehen, dass hier physische Arbeitskraft gegen intellektuelle Leistungsfähigkeit aufgewogen wird – gehört das Land den Arbeitern und Bauern oder der intellektuellen Elite? Ach ja, überhaupt: Sind nicht alle Gymnasiasten sowieso doof?

Womit sich die nächsten Fragen stellen, wenn man die bewusst niederschwellig gewählte Darstellungsweise von pulk fiktion erst einmal im Unterricht oder im Gespräch mit Eltern und Lehrern aufbohrt: Wie leicht kann man eigenen Vorurteilen auf den Leim gehen? Wie schnell wird die verabredete Solidarität brüchig? Und, ganz wichtig: Wer ist Nutznießer von mangelnder Solidarität? Denn da ist ja Technik-Peter, hier der Besitzende, der den aufkeimenden Konflikt zwischen den Arbeitern … ähh … Räubern zu nutzen versteht. Der sammelt nämlich die teilweise schon ans Publikum verteilten Goldmünzen wieder ein – mit erpresserischen Methoden: „Sonst geht die Show nicht weiter.“ (Tatsächlich hat der Schreiber dieser Zeilen eine exakt gleiche Situation schon einmal live erlebt: Da waren’s allerdings die gewerkschaftlich organisierten Bühnenarbeiter und Techniker, die dem Publikum und dem „besitzenden“ Veranstalter einen Strick drehten und für den Abbruch einer Veranstaltung sorgten.) Ganz nebenbei und nur mit einem Satz werden auch die vorab entstandenen Materialkosten ins Feld geführt, die vor der Verteilung der Einnahmen erst einmal kompensiert werden müssten. Und was ist mit Kapitalkosten, mit unternehmerischem Risiko?

Das „ganz nebenbei“ ist leider ein Problem der Aufführung: Die Gewichtung der verschiedenen Aspekte erscheint nicht immer ausgewogen. Die Stärke der Gruppe, Fragen der Politik und des sozialen Zusammenhalts ohne erhobenen Zeigefinger in den Raum zu stellen und offene Diskussionen zuzulassen, kommt bei „Robin und die Hoods“ nur scheinbar zum Tragen, denn pulk fiktion ist erkennbar selbst emotional resp. intellektuell involviert. Da werden doch allzu undifferenziert der Staat und die Reichen als Ausbeuter und ungerechtfertigt Besitzende in einen Topf geworfen und erwiesenermaßen in Sackgassen führende altlinke Konzepte propagiert. Pulk fiktion prangert Vorurteile an, schürt aber bisweilen neue. Auch ob man 8jährige zum zivilen Ungehorsam aufrufen sollte (der Sherwood Forest mutiert zum Hambacher Forst), erscheint zumindest dem Schreiber dieser Zeilen zweifelhaft. Die Gruppe hat ein politisches Anliegen, das den moralischen Aspekt ihres Themas überlagert. Aber die zahllosen Aspekte, die die Gruppe auf so unaufdringliche Art und Weise im Hinblick auf Verteilungsgerechtigkeit und die Schwierigkeiten ihrer Umsetzung aufwirft, sind eine grandiose Stoffsammlung. Sie reicht locker für ein ganzes Semester schulischer Aufarbeitung.