HIERONYMUS – Känguru

Im Freien Werkstatt Theater gibt es einen Raum, in dem man träumen darf: „Hieronymus“ heißt das packende Stück für Zuschauer, das kleine und große Entdecker ab 6 Jahren mit auf eine spannende, abenteuerliche Reise ins Ungewisse nimmt.

Zeit zum Träumen

„Ihr Kind ist zu verträumt“, heißt es häufig im Elterngespräch, verbunden mit der Bitte, es aus der Traumwelt abzuholen und auf die Realität vorzubereiten, damit es in der Schule besser funktioniert. Der große Andrang im Freien Werkstatt Theater (FWT) Köln zeigt jedoch, dass viele Menschen offenbar doch gerne träumen. Mehr noch: Sie nehmen sich sogar extra Zeit dafür. Entgegen der Ansage: „Nun träum doch nicht schon wieder!“

In dem berührenden Stück „Hieronymus“, das auf dem Bilderbuch von Thé Tjong-Khing beruht, gibt es die Erlaubnis, einfach in Gedanken sein zu dürfen. Das Gemeinschaftsprojekt von Pulk Fiktion, dem Theater an der Ruhr, dem Forum Freies Theater (FFT) Düsseldorf sowie dem FWT Köln wird inszeniert von Hannah Biedermann. Es bietet eine fulminante Mischung aus tänzerischer Performance, futuristischer Musik, die unter die Haut geht, und expressivem Schauspiel von Amelie Barth, Elisabeth Hofmann und Kelvin Kilonzo, das ganz ohne Dialog auskommt.

Konkret geträumt

Aber wie lässt sich ein abstraktes Thema wie „Fantasie“ auf eine Bühne befördern? Und dann auch noch für Kinder? Indem man vielleicht einfach jene konkret befragt, was ihre Träume, Wünsche und Alpträume sind. Die Antworten bekommen die kleinen und großen Besucher in Form von aufgenommenen O-Tönen auf die Ohren. Mal sind sie komisch-skurril, berichtet doch ein Kind, ein Tier habe im Traum frech seinen Rucksack geklaut. Das Publikum lacht. Mal beinahe vernünftig, weil im Traum ja eigentlich nichts passieren kann. Dann plötzlich Furcht einflößend.

Kindliche Träume und erwachsene Magengruben

Denn nicht selten schlummern in der Unterwelt des Ungewissen auch Ängste. Schließlich ist es eine Reise ins Jenseits der Grenzen von Gut und Böse. Eine Furcht, die von den befragten Kindern als ein Wesen mit einem dreieckigen Mund beschrieben wird. So träumt ein Kind beispielsweise, dass seine Mutter einen Mann kennenlernt, der es umbringt. Während die Mutter darüber im Traum lacht, bleibt dem Publikum in der Realität das Lachen im Halse stecken. Krass ist, dass diese Aussagen von Kindern stammen. Man kann nicht sagen: „Irgendein besorgter Erwachsener hat sich diesen verrückten Unsinn ausgedacht.“ Oder alles auf Freud und seine dämliche Couch schieben. Das hier ist ein konkreter Hieb aus dem kindlichen Reich der (Alp-)Träume in die erwachsene Magengruben-Realität.

Sich aufessende Erdbeeren und rülpsende Roboter

Weinen tut jedoch niemand. Dazu klingen die Stimmen wiederum zu fröhlich und zu alltäglich. Und Träume sind nun mal Träume. Dafür ist die Inszenierung auch zu sehr mit Humor gespickt. So werden zum Beispiel Tiere auf skurrile Weise imitiert. Erdbeeren verspeisen sich selber. Immer wieder unterbrochen von seltsamen, elektronisch animierten Objekten, die teilweise rülpsend durch den Raum fahren.

Gerechte Grenzüberschreitung

Was „Hieronymus“ sehenswert macht, ist, dass die Grenzüberschreitung in die parallele Welt der Fantasie auch auf theaterpädagogischer Ebene stattfindet: Kinder werden nicht in Samthandschuhe gepackt und ausgeklammert, sondern als ebenbürtige Bürger dieser Gesellschaft integriert. Auch sie dürfen Grenzen austesten. Auf fantastische und gleichzeitig kindgerechte Weise gelingt es hier, ein packendes und großes Thema auf die Bühne zu hieven und Emotionen greifbar zu machen. Wer sich ebenfalls vom Sog des Fantastischen verzaubern lassen möchte, kann dies tun. Die einzige Voraussetzung: Man muss sich Zeit zum (Alp-)Träumen nehmen.