Du bist nicht allein

Heidelberg, 4. Mai 2017. Kann mir einer von euch zwanzig Euro leihen?“, fragt Manuela Neudegger ins Publikum. „Ich meine das ernst. Ich brauch die jetzt wirklich.“ Schnell ist eine Erwachsene aus dem Publikum bereit, der Performerin einen Schein zu reichen. „Du kriegst sie auch nachher zurück.“ Der Schein landet unter einer Kamera und wird auf den Vorhang im Hintergrund der Bühne projiziert. Da hängt es nun, das Objekt der Sehnsucht. „Liebe zwanzig Euro. Wir haben uns schon lange nicht mehr gehört. Aber jetzt brauche ich dich sehr“, wird Neudegger später beten.

Nicht von Geld handelt „All about nothing“, sondern von seinem Fehlen. Die Gruppe pulk fiktion nähert sich dem Thema Kinderarmut mit einer bunten Inszenierung aus Musik, dokumentarischem Material, Zeichnungen und Tanzeinlagen. Wunderbar etwa die Choreographie, in der sich das gesamte Ensemble in ein Glitzertop zwängt und sich mit all jenen solidarisiert, die das Wort „auftragen“ am eigenen Leib erleiden.

Ohne pädagogisches Schreckgespenst

Die Koproduktion mit dem FFT Düsseldorf und dem Theater Bonn folgt einer rückwärts ablaufenden Chronologie von Lebensjahren. Die Bedürfnisse von Kindern verkleinern sich im Laufe des Stücks, werden immer bescheidener. Aber ob alt oder jung, kleine oder große Wünsche – erfüllt werden sie nicht. Pulk fiktion lassen Heliumluftballons mit Alterszahlen von 21 bis 0 Richtung Bühnendecke schweben. Wenn Träume fliegen lernen, sind sie irgendwann weg.

„Es gibt keinen Abstieg, höchstens den fehlenden Arschtritt / Es gibt keinen Abstieg / Denn wer wirklich will, kann auch was werden“, singt Sebastian Schlemmiger. Von wegen. Pulk fiktion zeigen Armut als strukturelles Problem, an dem Kinder nur das Leid, aber keine Schuld tragen.

Die Stückentwicklung basiert auf Interviews. Treten die Performer auf Kontaktstellen auf dem Bühnenboden, sind Auszüge aus den Gesprächen zu hören. Eine sehr kluge Entscheidung, Kinder selber zur Wort kommen zu lassen. So sprechen pulk fiktion nicht über sie (hinweg) und vermeiden auch das ästhetische Schreckgespenst vieler Jugendstücke: pädagogischen Anspruch.

Was alles nicht geht

Die Interviewten erzählen, wann und wie oft sie in den Urlaub fahren, wofür sie ihr Taschengeld ausgeben und was sie sich für ihre Zukunft wünschen. Und einige erzählen erschreckend gefasst von einem Leben, geprägt von Entbehrungen. „All about nothing“ ist ein Stück darüber, nicht mit den Freunden Geburtstag zu feiern, nicht ins Kino zu gehen und die Ferien-Erzählungen der anderen so zu genießen wie den eigenen niemals angetretenen Urlaub. Dabei ergeht sich die Inszenierung nicht in Betroffenheit. Stattdessen zeigt sie etwaigen Betroffenen im Publikum, dass sie nicht allein sind, und sensibilisiert andere, dass das Thema Geld umso dringlicher wird, wenn es nicht nur um die Entscheidung zwischen PS 3 und 4 geht. Und damit haben pulk fiktion den Heidelberger Stückemarkt reich beschenkt.

nachtkritik.de, Michael Wolf, 04.05.2017