Doppelbödiges Spiel mit der Schadenfreude

„Was auch lustig ist“, sagt Matthias Meyer, „kleine Übeltäter auf Popcorn-Größe zu schroten.“ Ob einige der überwiegend im Grundschulalter befindlichen Kinder im Publikum jetzt realisieren, was sie gerade tun? Sie futtern soeben die Körner, die die drei maliziösen Darsteller(innen) von pulk fiktion ins Parkett geworfen haben. Sie wissen schon: „Rickeracke! Rickeracke! / Geht die Mühle mit Geknacke.“ Die Kinder laben sich an M&M – an Max und Moritz, zu Popcorn verarbeitet. Und sie lassen sich den Appetit nicht verderben.

Die im Jahre 2007 in Bonn gegründete und seit 2016 im Freien Werkstatt Theater Köln residierende Performance-Gruppe pulk fiktion feiert drei Tage lang im FWT ihren 10. Geburtstag. Zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen hat sie in den vergangenen zehn Jahren erhalten; auf den Kinder- und Jugendtheater-Festivals in NRW und in Deutschland ist sie seit langem Stammgast. Zum Jubiläum hat sich die Gruppe eine neue Produktion geschenkt: Mit anarchischer Freude bereitet sie Wilhelm Buschs Horror-Streiche für ein heutiges Publikum auf, und sie beginnt mit dem Ende, dem siebten und letzten Streich, der für Max und Moritz einen letalen Ausgang hat. Es ist der Tod im Küchenmixer, in Großaufnahme eingefangen von einer kleinen Handkamera. Noch kann man M&M’s sterbliche Überreste erblicken, fein geschrotet und in Stücken. Doch sogleich verzehren sie im FWT Kay und Sophie. – „Was noch lustig ist“, sagt Matthias Meyer ungerührt, „wenn jemand so vor ‘ne Laterne läuft.“

So werden die Kinder zu Beginn der höchst unterhaltsamen, aber auch mit zahlreichen Überraschungseffekten aufwartenden Aufführung zunächst einmal mit dem Thema Schadenfreude konfrontiert – und zwar ohne jeden pädagogischen Zeigefinger. Im Gegenteil: Man testet die Schmerzgrenze aus – oder den Grad der Erbarmungslosigkeit kleiner Kinder. Max und Moritz, dargestellt von zwei jungen Frauen (Karoline Kähler und Clara Minckwitz) treten und prügeln mit aller Lust und Kraft die auf der Bühne liegenden respektive auf der Leine hängenden Hühner, wirbeln sie an ihren Leinen herum als handele es sich um ein Ballspiel. Ruckedikuhn, Blut läuft aus’m Huhn – hier wird ausgestellt, was alles nicht geht: brutal, mitleidlos und in hohem Maße politisch inkorrekt. Und wenn die Hühner ins Publikum zu fliegen drohen, lesen wir in Laufschrift über der Bühne: „Wer getroffen wird, ist dumm!“ – Und das Kind, das das Pech hat, einen großgewachsenen Erwachsenen in der Reihe vor sich zu haben, muss sich belehren lassen: „Wer nichts sieht, ist selber schuld!“

Ist das noch schwarzer Humor oder ist das schon Provokation? Das Erstaunliche ist: Die Kinder lassen sich das alles gefallen. Sie protestieren nicht, die meisten von ihnen lachen, und wenn die Performer um Hilfestellung auf der Bühne bitten, finden sich jede Menge Freiwillige. Matze Meyer wird gefesselt und an Elektroden angeschlossen – interessiert steht der kleine David aus der zweiten Reihe auf der Bühne und bedient die Fernbedienung des Elektroschockers. Wo hört eigentlich der Spaß auf, wollten die Performer wissen, doch das Verhalten der kleinen Zuschauer beantwortet ihnen diese Frage kaum – die lassen das teils amüsiert, teils fasziniert an sich vorüberziehen. Ob denn der Tod von Max und Moritz verdient sei, haben die Performer in Testläufen der Aufführung ihre jugendlichen Zuschauer gefragt, und immerhin meinte ein Mädchen: „Eigentlich ist das ein bisschen blöd. Menschen machen ja Fehler…“

Solch Kindermund fließt immer wieder per Audio-Aufnahme in die Aufführung ein, und es findet sich nicht nur mancher naive, sondern auch mancher kluge Kommentar darunter. Auch erzählen die Kinder von ihren eigenen – meist sehr harmlosen – Streichen. Nie wird jemand in eine Peinlichkeitsfalle gelockt; sehr sensibel gehen die ansonsten so burschikosen Performer mit ihrer Kundschaft um. Aus Kinder-Kommentaren, Wilhelm-Busch-Text, eigenen Ideen und Provokationen, toller Musik und kleinen Videoeinspielungen haben die pulk fiktionalisten eine wunderbare Collage gebastelt, und immer wieder wird auf die heutige Erfahrungswelt der Kinder zurückgegriffen, wobei nahezu jede Idee ein ähnlich bösartiges Ende generiert wie die Streiche bei Wilhelm Busch. Zuschaueranrufe und Telefonstreiche nehmen Bezug auf Elemente heutiger Fernsehshows – am Ende werden die Eltern und Lehrer zu einer „Erwachsenen-Pause“ eingeladen und dann eingesperrt. Eine Collage von Liebesliedern endet mit dem Knall einer explodierenden Bombe. Die Bösartigkeit der Rammstein-Zeile „Bestrafe mich“ werden wohl vor allem die Erwachsenen erahnen.

Spätestens mit der Elektroschocker-Szene werden die Performer dann aber doch ein wenig pädagogisch: „Was hätten die (Kinder) denn gemacht, wenn der (Matze Meyer) sich nicht befreit hätte“, fragen Kähler und Minckwitz in den Raum. Und schildern plastisch, was dann passiert – bis hin zum Geruch nach verbranntem Menschenfleisch. Da ist der schadenfrohe Unterton, der Spaß an roher Gemeinheit weg, und die Performerinnen werden ernst. Im sechsten Streich, in dem aus Max und Moritz Brote gemacht werden, deutet sich auch bei Wilhelm Busch bereits die tödliche Gefahr an. Bei ihm geht dieser Streich für die beiden Übeltäter noch gut aus. Bei pulk fiktion fordert Meyer die Bäckerinnen, als die Max und Moritz jetzt auftreten, dagegen auf: „Ihr müsst doch selbst jetzt in den Teig … Ihr müsst doch sterben.“ Max und Moritz alias Karoline Kähler und Clara Minckwitz aber wollen noch nicht sterben. Da bricht eine Art akustisches Gewehrfeuer los. Die beiden zucken im Kugelhagel und fallen tot um.

 „Das ist irgendwie lustig. Oder auch nicht“, sagt ein Kind aus der Testgruppe, das wir vom Band hören. Dieses Ende einer anarchischen, lustvoll jegliche politische Korrektheit unterlaufenden und doch moralisch gemeinten Aufführung macht ganz schön nachdenklich. Das Lachen der Kinder im Publikum hat nachgelassen. Der Applaus ist umso heftiger.

Dietmar Zimmermann, Theater pur, 15.10.2017